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Collapsing in front of


Supermarket-shelves



anderswo
Amerika, der letzte Supermarkt

Eine Gebrauchsanleitung / Von Heinrich Wefing

Gehen wir etwas einkaufen. Nicht beim Vietnamesen um die Ecke, obwohl dessen winziger Laden rund um die Uhr eigentlich alles vorhält, was man zum Leben braucht: Milch, Toastbrot, gefrorene Hähnchenschenkel, Bananen und Bier, Kaugummi, Nagellack, die "New York Times". Gehen wir auch nicht ans Ende der Straße zum nächstgrößeren grocery store. Setzen wir uns ins Auto und fahren an den Stadtrand, in eine der ungezählten shopping malls längs der Autobahn, ins mächtig pumpende Herz des Kapitalismus. Dorthin, wo die Kalifornier einkaufen.

Es ist eine eigene Welt, manche Naturgesetze scheinen dort außer Kraft gesetzt, und auch manche Instinkte. Prägen Sie sich also bitte, während wir uns gemächlich durch den Verkehr Richtung Gewerbegebiet schieben, einige Grundregeln für das Überleben im Einkaufsland ein. Mißtrauen Sie grundsätzlich den Preisen, die Sie auf Waren oder Speisekarten sehen. Sie müssen fast immer mehr bezahlen. Der ausgezeichnete Betrag auf dem Preisschild nämlich enthält meist nicht die lokalen Steuern, die von Stadt zu Stadt und Landkreis zu Landkreis variieren, aber immer erst an der Kasse hinzuaddiert werden. Das ist keine böse Absicht, kein listiger Täuschungsversuch, sondern amerikanische Konvention. Neuankömmlinge aber werden davon immer wieder unangenehm überrascht. Kaufen Sie, zweitens, möglichst nichts, das Sie nicht wollen, nur weil es gerade im Doppelpack billiger ist - kein Mensch kann je dreißigtausend Q-Tips verbrauchen. Überdenken Sie drittens Ihr Verständnis der Begriffe "groß" und "klein". Deutsche Supermärkte und Einkaufszentren verhalten sich zu kalifornischen malls etwa so wie eine Luftlande-Division der U.S. Army zum Heeresmusikkorps der Bundeswehr - Feuerkraft tausend zu eins. Der durchschnittliche amerikanische Konsumdistrikt, der nicht zufällig immer häufiger mega mall heißt, ist um einen Parkplatz herum angelegt, in dessen Mitte man eine Atombombe zünden könnte, ohne daß die Wagen am Rand einen Kratzer abbekämen. Rechts erhebt sich ein "Wal-Mart" auf der Grundfläche einer Pyramide, links ein "Macy's", vorne ein "Old Navy", groß genug, um als unabhängiger Staat in die Vereinten Nationen aufgenommen zu werden, dazwischen liegen allerlei "Gap"-Filialen, ein oder zwei "Starbucks"-Cafes, der einzige öffentliche Spielplatz im Umkreis von Kilometern und weit hinten, schon fast jenseits des Horizonts, wegen der Krümmung der Erdkugel kaum mehr sichtbar, ein "Home Depot".

In den shopping malls ist Kalifornien ganz bei sich. Sie sind wahnwitzig groß, vollklimatisiert und versprechen ziemlich schamlos die sofortige Erfüllung (fast) aller Wünsche. Sie sind Lagerhaus, Speisekammer und Kuriositätenkabinett einer Nation von Konsumenten. Ein geschlossenes Universum, in dem die ganze Welt käuflich ist: eingeschweißt, auf Flaschen gezogen, in Dosen gefüllt, auf Regale gestapelt. Jede mall ist ein Utopia der Autarkie. Würde die, die wir gerade besuchen, von einem Erdbeben erschüttert, vom Festland gerissen und hinaus auf den Pazifik getrieben - es würde uns auf Monate an nichts mangeln.

Wer einen solchen Laden zum ersten Mal betritt, tut dies auf eigene Gefahr. Es ist, als würde ein Einsiedler aus der Wüste in den Dschungel verschlagen. Die Orientierungsleistung, die ein Neuankömmling aus Europa in einem kalifornischen superstore vollbringen muß, geht an die Grenzen des Zumutbaren. Bedenken Sie bitte, daß Ihnen Jahrzehnte an Erfahrung und Tausende Stunden Werbefernsehen fehlen, um sich im Warengewimmel zurechtzufinden. Natürlich begegnet man mitunter bekannten Marken: Cornflakes von Kellogs zum Beispiel, Coca-Cola sowieso. Aber was tut man vor sechs Regalmetern Orangensaft? Welcher Impuls leitet die Hand, nach irgendeinem der unbekannten Getränke zu greifen? Wer nie vor solcher Fülle stand, weiß nicht, was Ratlosigkeit ist.

Orangensaft in allen Preisklassen steht da in jedem Supermarkt landauf, landab, in Flaschen, in Pappkartons, in Plastikkanistern. Orangensaft natur, Orangensaft mit viel "pulp", mit reichlich Fruchtfleisch also, mit wenig, mit ein bißchen. O-Saft mit viel Calcium oder wenig Säure. Mit Vitamin A oder D, gemischt mit anderen Säften, gekühlt oder vorgewärmt; organischer Orangensaft, pestizidfreier Orangensaft, Blutorangensaft. Orangensaft aus Florida, aus Kalifornien, aus Übersee. Genug Orangensaft, um die Wüste Gobi zu bewässern. Wie verwirrt, wie entzückt, wie überwältigt muß ein Besucher aus Laos oder Rumänien sein, wenn er sich zum ersten Mal diesem O-Saft-Overkill gegenübersieht? Das ist Amerika, das Land des Überflusses, der Maßlosigkeit und der Freiheit, sich in Orangensaft zu ertränken.

Tausend Tiefkühlpizzen

Und es gibt kein Entkommen. Mag man auch die Flucht aus der Getränkeabteilung antreten, unfähig, sich für einen Fruchtsaft zu entscheiden - die nächste Auslage stürzt einen zuverlässig in noch tiefere Depression. Sie wollen Toastbrot? Hier gibt es Toastbrot: Toastbrot, soweit das Auge reicht. Oder kilometerlange Gänge mit Frühstücksflocken. Hekatomben von Fertigsuppen. Tausenderlei Tiefkühlpizzen. Wer kauft all dieses Zeug? Fühlen sich die Kalifornier zwangskollektiviert, wenn sie nicht zwischen mindestens fünfzehn verschiedenen Versionen eines Produkts wählen können? Wer braucht die "Familienpackungen" mit fünfundzwanzig Kilo Erdnuß-Flips? Und wer um Himmels willen sind die Leute, die sich eine Margarine auf den Tisch stellen, die "I Can't Believe It's Not Butter" heißt?

Welche Erlösung, inmitten dieses Chaos plötzlich Vertrautes zu entdecken: Barilla-Nudeln! Becks-Bier! Nutella! Lauter Leuchttürme in der Flut des Angebots, Grüße aus der Heimat, Anker in der Fremde. Vermutlich beschäftigen die Supermarkt-Ketten hochbezahlte consultants, die solche Wiedererkennungssignale für Menschen aus aller Welt strategisch über die Regale verteilen, damit keiner schreiend aus dem Laden rennt: hier ein paar russische Spezialitäten, dort einige afrikanische Leckereien. Eine Ecke für koschere Lebensmittel. Siebzehnhundert asiatische Gewürze, zig Glasnudelsorten, Konserven aus Korea und China - und alles, was es braucht, mexikanisch oder guatemaltekisch zu kochen.

Für Europäer mit einer Vorliebe für kleine Patisserien und gut sortierte Weinhandlungen ist es schwer zu begreifen, daß die Amerikaner im überbordenden Supermarkt nicht den verstörenden Warenwust sehen, sondern etwas Beruhigendes. Sie finden dort nicht das Chaos, sondern tausenderlei Produkte, die bei ihnen just die Gefühle hervorrufen, die bei uns der Anblick einer "Nivea"-Dose auslöst - Vertrautheit, Verläßlichkeit, Stabilität. Die Gewißheit, daß manche Dinge bleiben, egal was kommt. Als Konsumenten sind die Kalifornier ausgeprägte Konservative. Sie mögen verrückt sein nach dem jeweils neuesten elektronischen Spielzeug, aber wenn sie ihren Speiseplan zusammenstellen, sind sie störrische Traditionalisten. Viele der Marktführer für Lebensmittel sind heute noch dieselben wie vor fünfundsiebzig Jahren: "Campbell" bei Suppen, "Nabisco" bei Keksen, "Wrigley" für Kaugummi. Und nicht zufällig wirbt "McDonalds" damit, daß das Unternehmen in seiner fünfzigjährigen Geschichte ein paar Milliarden Hackfleischbrötchen verkauft hat. Es ist Stolz und Prahlerei, natürlich, aber auch das Versprechen unumstößlicher Kontinuität.

Es wäre ein kolossaler Irrtum zu glauben, die Kettenrestaurants, die Motel-Imperien und immergleichen mega stores längs der Freeways hätten etwas Abschreckendes für das kalifornische Publikum. Im Gegenteil, ihre Uniformität ist Teil ihrer Attraktivität. Hat man sich nämlich erst einmal in seinem Supermarkt orientiert, dann öffnet sich eine ganze Welt. Alle Filialen von "Safeway" etwa sind nahezu identisch organisiert: vorne links am Eingang die Sandwich-Theke, an der man unter Myriaden Optionen für sein belegtes Brot wählen kann, dahinter Kuchen und Wein, an der langen Rückwand Fleisch, Butter und Milch, davor Gang um Gang mit allen Produkten Amerikas und, ganz am Ende, die Obst- und Gemüseabteilung, wo der fertig gerupfte "garden spring salad" unablässig mit feinen Nebelschwaden befeuchtet wird. Wenn man sich mitten in der Nacht von Außerirdischen in eine "Safeway"-Filiale auf Hawaii versetzt wiederfände, ohne Licht, ohne Strom, ohne Begleiter - man würde keinen Moment die Orientierung verlieren.

Zwölfhundert Kilometer

Kennt man einen Supermarkt, kennt man sie alle. Und dasselbe gilt für die Schnellrestaurants, die Motels und Tankstellen. Daß man sie verwechseln könnte, macht sie so verläßlich. Ganz gleich, ob man durch Alaska fährt, durch Texas oder durch die Einfamilienhauswüsten von Orange County - überall verspricht der goldene Doppelbogen von "McDonalds" Hamburger, deren Geschmack unveränderlicher ist als die Haltung des Vatikans in der Abtreibungsfrage. Überall garantieren das "Best Western"-Logo oder die gelbe Sonne von "Day's Inn" ein sauberes Bett in einem Raum, dessen Standardisierung so weit vorangetrieben ist, daß man, wenn man morgens aufwacht, nie sicher sein kann, ob man gerade in Florida ist oder in North Dakota. Überall stehen die beiden Queensize-Betten an der exakt selben Stelle, immer zu klein für zwei, stets zu groß für nur einen Gast, daneben ein hellgraues Tastentelefon mit rotem Lämpchen für wartende Nachrichten, und am Fußende, damit man im Liegen schauen kann, der Fernseher. Wahrscheinlich gibt es sogar unternehmensinterne Richtlinien, wo der Regler für die Klimaanlage angebracht werden muß.

Für Europäer, deren Kultur wesentlich auf die Verfeinerung von Unterschieden gegründet ist, mag das befremdlich, gar barbarisch erscheinen. Die amerikanische Zivilisation aber zielt, sehr einfach formuliert, auf die Überwindung des Raums, auf die Homogenisierung des Heterogenen und auf die möglichst reibungslose Integration des Fremden. Anders gesagt: Wer gerade zwölfhundert Kilometer durch drei Bundesstaaten gefahren ist, um Geschäfte zu machen, ist am Abend in der fremden Stadt nicht auf das Besondere aus, der will nur ein ordentliches Bett. Und wer zum zwölften Mal umgezogen ist und fürs neue Haus in der neuen Stadt einen Rasenmäher braucht, der ist zufrieden, wenn er in der Nähe, wie überall in den Vereinigten Staaten, ein "Home Depot" findet, einen geräumigen Parkplatz davor und rasch bekommt, was er will. Wer eine Weile in Amerika lebt, wird den beruhigenden Effekt dieser Vorhersehbarkeit rasch registrieren. Und ihn bald genießen.

Nach einem langen, heißen Tag mit lauter geplatzten Terminen bin ich einmal am Stadtrand von San Diego auf den Parkplatz einer shopping mall gefahren, aus dem Wagen gestiegen und war nach ein paar Schritten in einer gigantischen Filiale von "Whole Foods". Das ist die kalifornische Variante des deutschen Ökoladens an der Ecke, selbstverständlich hundertmal so groß, rasend erfolgreich, mit über hundertfünfzig Ablegern in Nordamerika und Großbritannien ein schlagender Beweis, daß sich grüne Gesinnung und Gewinnstreben auf das schönste verbinden lassen. Es war, als wäre ich in den Paradiesgarten eingetreten. Kühle Luft, perlende Musik aus versteckten Lautsprechern, athletische Menschen in Shorts und Sandalen, und überall, soweit das Auge reichte, verlockende Früchtchen, zu Türmen und Feldern arrangiert.

Vierzehn Spontankäufe

Draußen lag die tiefdunkle südliche Nacht, und hier drinnen lag alles vor mir. Die Gereiztheit fiel von mir ab. Beglückt griff ich nach allem, wonach mir der Sinn stand: französisches Mineralwasser, deutsches Bier, garantiert naturnah produzierter Hartkäse aus Connecticut, kalter Nudelsalat mit Hühnchen in Zitronensoße, Pfefferminz-Eis mit dicken Schokoladenbrocken, sechs Stück Sushi, die vor meinen Augen gerollt worden waren, ein Obstsalat aus Mango, Ananas, Äpfeln und Trauben. Glaubt man den Statistiken, tätigt jeder Supermarktbesucher vierzehn "Spontankäufe", kauft also vierzehn Dinge, die gar nicht auf seinem Einkaufszettel standen, wann immer er einen grocery store betritt. Ich dürfte den Durchschnitt kräftig nach oben getrieben haben.

Erst an der Kasse tauchte ich aus dem Rausch wieder auf. Was ich in den Einkaufswagen gepackt hatte, hätte genügt, die amerikanischen Truppen im Irak für Monate zu versorgen. Die Endabrechnung ließ meine Kreditkarte heftig erröten. Aber ich war entspannt, ja euphorisch, um viel Geld ärmer, doch seelisch bereichert, ganz mit mir und der Welt im Einklang. Jedenfalls mit der Welt in den Grenzen von Kalifornien. Gegessen habe ich an dem Abend übrigens nur den Nudelsalat.

Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.09.2005, Nr. 38

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by Matt Barkelo (31.08.12, 00:47)

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